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Nach dem Scheitern der Jamaika Verhandlungen schlägt die Stunde des Bundespräsidenten.

Die Absage der Sondierungsgespräche durch FDP-Chef Christian Lindner führt dazu, dass die CDU/CSU wohl nur noch mit SPD eine große Koalition bilden könnte. Dem hatte die SPD zumindest nach kurz nach der Wahl aber schon eine Absage erteilt. Vielfach hört man etwa in der Presse, dass es beim Scheitern von Koalitionsverhandlungen zwangsläufig zu Neuwahlen kommen müsse. Doch so einfach ist die Sache nicht, wie ein Blick in die durchdachten Regelungen des Grundgesetzes zeigt:

Doch was sieht das Grundgesetz in Art. 63 GG vor, wenn sämtliche denkbaren Koalitionsverhandlungen scheitern?

Art. 63 GG lautet wie folgt:

„(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.

(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.

(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.

(4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.“

Art. 63 GG ist zusammen mit Art. 65 GG die Verfassungsbestimmung, die die wesentlichen Grundsätze zur Wahl der Bundeskanzlerin, zur Zusammensetzung der Bundesregierung und deren Arbeit enthält.

Art. 63 GG regelt die Wahl des Bundeskanzlers. Der Bundespräsident hatte darin – jedenfalls bisher – nur eine untergeordnete Funktion, da Art. 63 Abs. 1 GG bestimmt, dass der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt wird.

Außer dem Bundespräsidenten hat somit kein anderes Verfassungsorgan als der Bundestag ein Mitspracherecht bei der Wahl des Bundeskanzlers, das Grundgesetz geht hier klar vom Leitbild des parlamentarischen Regierungssystems aus. Im Gegensatz dazu wird der Rest der Regierung, also die Bundesminister, die „einfachen Regierungsmitglieder“ nach Art. 64 GG auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen, sie benötigen für ihre Ernennung, Entlassung und Tätigkeit also gerade keine Zustimmung des Parlaments.

Die Regelung des Grundgesetzes, dass der oder die Bundeskanzlerin ohne Aussprache vom Bundestag zu wählen ist, bedeutet freilich nicht, dass der Wahl nicht langwierige Aussprachen und Verhandlungen voraus gehen können. Das war bei den Sondierungsgesprächen zur Jamaika Koalition ja eindrücklich festzustellen. Verfügt – wie im aktuellen Parlament – keine Fraktion über die Kanzlermehrheit, so ließe es das Grundgesetz durchaus auch zu, dass der oder die Kanzlerkandidatin sich ohne vorherige Absprache einfach zur Wahl stellte und dann einfach auf die nach Art. 63 Abs. 2 GG zunächst erforderliche Kanzlermehrheit hofft (vgl. Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum GG, Art. 63, Rz. 8).

Die Koalition und der Koalitonsvertrag

Der bisherige Normalfall einer stabilen Regierungskoalition wird vom Grundgesetz indes gar nicht angesprochen, erwünschter ist er allerdings allemal, der frühere Bundespräsident und Verfassungsrechtler Roman Herzog spricht im führenden Grundgesetz-Kommentar in diesem Zusammenhang davon, dass die Verfassung „die Koalition und die damit zusammenhängenden Phänomene billigend zur Kenntnis nimmt“ (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 8). Wochenlang hat nunmehr die amtierende Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zusammen mit den Fraktionen von CDU/CSU, der FDP und den GRÜNEN sondiert, ob es für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen reicht. Deren Ziel wäre dann der Abschluss eines Koalitionsvertrages zur Bildung einer Regierungskoalition gewesen, der die Verteilung der Ressorts, also der Bundesministerien und die Leitlinien der künftigen Politik der Bundesregierung abgebildet hätte. Auch der Koalitionsvertrag wird im Grundgesetz folgerichtig nicht erwähnt. Herzog weist sogar etwas ironisch darauf hin, dass man versucht sein könnte, gegen die Zulässigkeit derartigen Vereinbarungen einzuwenden, dass die Personalhoheit doch nach Art. 64 GG Sache des Bundeskanzlers sei (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 9).

Nach dem Abbruch der Sondierungsgespräche durch den FDP-Chef Linder wird es aber jedenfalls keine Koalitionsvereinbarung einer Jamaika-Koalition geben. Wie geht es nunmehr verfassungsrechtlich weiter?

Der Normalfall einer Wahl des Bundeskanzlers auf Vorschlag des Bundespräsidenten

Schon im „Normalfall“ einer erfolgreichen Koalitionsverhandlung kommt nach Art. 63 Abs. 1 GG jedenfalls der Bundespräsident ins Spiel, denn der er muss dem Bundestag einen Vorschlag für einen Kanzlerkandidaten oder im hiesigen Fall vermutlich eine Kandidatin unterbreiten, Art. 63 Abs. 1 GG. Eine Frist hierfür nennt das Grundgesetz nicht, es erwähnt auch keine Formalitäten.

In der Staatspraxis ist es heute üblich, dass der Bundespräsident seinen Vorschlag schriftlich an den Präsidenten des Bundestages sendet, der diesen dann nach Aufruf des Tagesordnungspunktes „Wahl des Bundeskanzlers“ im Bundestag verliest, denn – auch darauf weist Herzog hin – der Bundespräsident ist im Bundestag nicht ohne weiteres redeberechtigt (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 16).

Der Bundespräsident ist nach herrschender Lehre rechtlich verpflichtet dem Bundestag einen Vorschlag zu machen (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 16, m.w.N.). Insofern könnte in nicht allzu ferner Zeit tatsächlich schon in der Ausübung des Vorschlagsrechts und eben aber auch der Vorschlagspflicht eine wichtige politische Entscheidung des Bundespräsidenten liegen. Im Normalfall wäre der Bundespräsident hierbei an das Ergebnis einer erfolgreichen Koalitionsverhandlung rechtlich wohl gebunden. Herzog weist aber auch darauf hin, dass der Bundespräsident auch das Recht hat, unnötig lange Koalitionsverhandlungen dadurch „abzuwürgen“, dass er damit droht, im Falle einer Nichteinigung auf einen geeigneten Kandidaten dann eben selber einen vorzuschlagen (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 17). Bleibt der Bundespräsident untätig, so verletzt er seine verfassungsrechtlichen Pflichten und könnte sich nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG eine Organklage einhandeln. Daraus kann man ersehen: Der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier muss in absehbarer Zeit handeln. In seiner heutigen Rede erwartet der Bundespräsident Steinmeier deshalb zu Recht auch von allen Parteien Gesprächsbereitschaft, also inklusive seiner eigenen Partei.

Mit Blick auf die Auswahl einer geeigneten Person, die der Bundespräsident vorschlagen kann, wird auf einen gewissen Ermessensspielraum des Bundespräsidenten hingewiesen (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 18). Normalerweise sollte der Bundespräsident aber darauf achten, dass der oder die von ihm vorgeschlagene Person für das Amt des Bundeskanzlers eine gewisse Aussicht auf Wählbarkeit hat, denn da nach Art. 63 GG alleine dem Bundestag das Recht zusteht den Bundeskanzler zu wählen würde es wenig Sinn ergeben, eine Person vorzuschlagen, die letztlich nicht gewählt wird. In der Vergangenheit hat der Bundespräsident im „Normalfall“ deshalb immer das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen abgewartet und dem Parlament dann denjenigen zur Wahl als Bundeskanzler vorgeschlagen, auf den sich die jeweiligen Koalitionäre geeinigt hatten. Was aber, wenn alle weiteren Koalitionsverhandlungen – etwa auch mit der SPD – scheitern sollten? Dann hätte das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten aus Art. 63 Abs. 1 GG dieses mal erstmals ein eigenständiges politisches und verfassungsrechtliches Gewicht.

Wer ist überhaupt zum Bundeskanzler wählbar?

Der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin muss nicht Mitglied des Bundestages sein (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 22), mit Ausnahme von Kurt Georg Kiesinger (der von 1966 bis 1969 als Bundeskanzler amtierte) waren aber bislang alle Bundeskanzler zugleich auch Abgeordnete des Parlaments, die Doppelzugehörigkeit ist also heute parlamentarischer Normalfall.

Die Wahl des Bundeskanzlers ist sodann in Art. 63 Abs. 2 bis 4 GG geregelt.

Hat der Bundespräsident nach Art. 63 Abs. 1 GG seinen Vorschlag an das Parlament übermittelt, so hat dieses unverzüglich (und ohne vorherige Aussprache) über den Vorschlag des Bundespräsidenten abzustimmen. Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht vor, dass dies mit verdeckten Stimmzetteln zu geschehen hat (siehe § 4 S. 1 iVm § 49 GeschOBT) also in nichtöffentlicher Abstimmung. Hierin kann schon politisches „Potenzial“ bei der Wahl des Bundeskanzlers liegen, denn die Fraktionen können das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten nicht „überwachen“. Abweichler aus anderen Fraktionen könnten also geneigt sein, der Kandidatin oder dem Kandidaten ihre Stimme zu geben auch wenn das nicht der Kandidat ihrer Partei ist.

Der erste Wahlgang zur Wahl des Bundeskanzlers, Art. 63 Abs. 2 GG

Nach Art. 63 Abs. 2 GG ist der Kandidat im ersten Wahlgang dann gewählt, wenn er die „Mehrheit der Stimmen des Deutschen Bundestages“ auf sich vereinigt. In diesem Zusammenhang spricht man von der „Kanzlermehrheit“. Nicht abgegebene Stimmen oder ungültige Stimmen wirken in diesem Zusammenhang also praktisch wie Nein-Stimmen, denn das Gesetz spricht ja von der Mehrheit der Stimmen des Deutschen Bundestages. Dieser besteht in der laufenden Legislaturperiode aus 709 Abgeordneten. Wer Kanzler werden will braucht also für die Kanzlermehrheit in diesem Jahr 355 Stimmen.

Der zweite Wahlgang innerhalb von 14 Tagen, Art. 63 Abs. 3 GG

Erhält der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat nicht die erforderliche Kanzlermehrheit, dann weist das Grundgesetz in Art. 63 Abs. 3 GG dem Bundestag selbst das weitere Prozedere zu, der Bundespräsident ist also (erst einmal) aus dem Spiel, kann dort aber wieder auftauchen, wie wir später sehen werden:

Denn nach dem Scheitern des ersten Wahlgangs soll der Bundestag innerhalb von zwei Wochen mit „der Hälfte der Mitglieder“ einen neuen Bundeskanzler wählen. Der Bundespräsident hat auf die neuen Wahlvorschläge keinen Einfluss mehr, wenn man von der Ernennung des neuen Kanzlers einmal absieht. Herzog kommentiert den Art. 63 Absatz 3 GG so, dass das Parlament „äußerste Anstrengungen“ unternehmen muss, innerhalb von 14 Tagen einen geeigneten Kanzler zu wählen. Dabei dürfen beliebig viele Wahlgänge durchgeführt werden (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 32 f.). Andererseits muss der Bundestag aber auch nicht wählen, das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift, die Frist von 14 Tagen würde dann ungenutzt verstreichen. Auch für die Wahl nach Art. 63 Abs. 3 GG gilt die „Kanzlermehrheit“. Wahlvorschläge in diesem Zeitraum sollen „aus der Mitte des Bundestages“ kommen. Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht vor, dass mindestens ¼ der Mitglieder des Bundestages einen neuen Vorschlag einbringen können.

Die dritte und letzte Stufe, Art. 63 Abs. 4 GG

Kommt innerhalb der Zweiwochenfrist keine Kanzlermehrheit zustande, so tritt das Verfahren zur Wahl eines Kanzlers in die letzte Phase. Nach Art. 63 Abs. 4 GG kann dann auch schon die „relative“ Mehrheit reichen, aber nur, wenn der Bundespräsident den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten innerhalb von sieben Tagen ernennt. Hier schlägt die wahre politische Stunde des Bundespräsidenten: Denn wenn der Bundespräsidenten den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten nicht ernennt, muss er das Parlament auflösen, er hat dann also die Wahl zwischen zwei echten politischen Handlungsalternativen, Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG. Herzog weist darauf hin, dass der Bundespräsident hierbei die volle politische Entscheidungsfreiheit hat, entweder einen Minderheitskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen, er benötigt keine Gegenzeichnung (vgl. Herzog, a.a.O., Art. 63, Rz. 40). Es bleibt dennoch zu hoffen, dass der Appell des Bundespräsidenten Steinmeier an die Parteien diese noch einmal dazu ermutigt erfolgreich eine Koalition zu schmieden.


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